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Eine Anti-Weihnachtsgeschichte im Corona-Krisenjahr

Das EU-Parlament beschließt mit großer Mehrheit bis 2030 die Obdachlosigkeit zu beenden. Die Arbeitsagentur Oberhausen indes geht 2020 unter Berufung auf gesetzliche Regelungen und Vorgaben dem Verdacht des Missbrauchs von Kurzarbeitergeld bei der Verpflegung von Obdachlosen nach. Was aber meinen die Bundestagsabgeordneten Dirk Vöpel und Niema Movassat dazu?

Etwas mehr als als 230 Kilometer sind es von Oberhausen nach Brüssel. Eigentlich keine große Distanz. Bezogen auf eine Zeitachse von zehn Jahren allerdings dann doch. Gerade erst im November beschloss das EU-Parlament einen Katalog von Empfehlungen mit dem Ziel, Obdachlosigkeit bis 2030 in der Europäischen Union zu beenden. Mit 647 Ja-Stimmen bei 13 Nein-Stimmen und 32 Enthaltungen fiel das Votum der Parlamentarier überraschend eindeutig aus. Hinzu kommt, dass die Mitglieder des EU-Parlaments mit dem Problem der Obdachlosigkeit auch in seiner Dimension konfrontiert worden sind. Diese, so heißt in der Presseerklärung zu dem Entschluss, ist in den vergangenen zehn Jahren um 70 Prozent gestiegen.

Signet über dem Eingang des EU-Parlaments in Brüssel – Bild: Delinale.de

Während also im oft gescholtenen Brüsseler Polit-Betrieb die Notwendig des Handelns in Bezug auf die Verbesserung der Lebenssituation von Obdachlosen erkannt und politisch angegangen wird, setzt die Arbeitsagentur Oberhausen mit Blick darauf in der Vorweihnachtszeit erst einmal andere Prioritäten. Wie bereits zuvor von einigen Medien berichtet, sah sich Arbeitsagentur Oberhausen veranlasst zu prüfen, ob die Mitarbeiter von drei Oberhausener gastronomischen Betrieben bei der Zubereitung von Mahlzeiten für Obdachlose mitwirken. Grundlage für die Recherchen war der Verdacht, ob jene Mitarbeiter der besagten Unternehmen hierbei nicht missbräuchlich Kurzarbeitergeld beziehen. Angemerkt sei zudem, die Inhaber der drei Lokale bekochen und versorgen die Obdachlosen in Oberhausen derzeit unentgeltlich.

Jenseits von Brüssel
Die örtliche Arbeitsagentur macht, wie es sich für eine anständige Behörde gehört, lediglich Dienst nach Vorschrift. Danach gefragt, wie die Arbeitsagentur die Entscheidungsfindung hinsichtlich der Überprüfungen von Betrieben und Unternehmen handhabt, äußerte sich diese schriftlich dazu wie folgt: „Das dreistufige Verfahren bei der Kurzarbeit erschwert Betrugsversuche. Wenn die Anzeige von Kurzarbeit eingeht, prüft die Arbeitsagentur, ob grundsätzlich die Fördervoraussetzungen vorliegen. Liegen diese vor, kann Kurzarbeit realisiert werden. Die Anzeige von Kurzarbeit löst also noch keine Zahlung aus. Das Instrument ist auf einen flexiblen Einsatz im Betrieb ausgelegt. Deshalb wird Kurzarbeit immer rückwirkend, also nach Abschluss eines Monats, in dem kurzgearbeitet wurde, abgerechnet. Für das Einreichen dieser Monatsunterlagen hat der Arbeitgeber drei Monate Zeit. Der Betrieb überweist das Kurzarbeitergeld zunächst mit dem übrigen Monatslohn an die Beschäftigten, tritt also in Vorleistung. Danach reicht er die Abrechnung bei der Arbeitsagentur ein.

Obdachlos – Schlafplatz eines Obdachlosen vor einem Fachgeschäft für Outdoor-Utensilien – Bild: Wolfgang Sangmeister

Erst nach Einreichen und Prüfung dieser monatlichen Abrechnungen darf die Arbeitsagentur das Kurzarbeitergeld für den abgeschlossenen und abgerechneten Monat überweisen. In einem letzten Schritt gibt es eine umfassende Schlussprüfung durch hierfür qualifizierte Mitarbeiter:innen, bei der alle Abrechnungslisten nochmals geprüft werden. Ein Betrug bei Kurzarbeit ist zudem schwierig, denn es sind immer auch die Arbeitnehmer involviert. Ein ganzer Betrieb müsste hinter dem Betrug stehen. Des Weiteren kümmern sich viele Unternehmen gar nicht selber um die Anzeigen und Anträge, sondern die Steuerbüros der Betriebe!“

Mehrwert Ausrufezeichen
So ein „!“ zum Abschluss eines Satzes macht schon was her, wird jedoch von Schriftstellern:innen aufgrund der Wirksamkeit in der Regel mit Bedacht verwendet. Der Unterschied zwischen Sachbearbeitern und Schriftstellern könnte allerdings in diesem Fall nicht größer sein, wie hoffentlich anhand eines Zitats des Schriftstellers Victor Hugo zum Abschluss dieses Artikels deutlich wird.

Bleibt noch die Frage des Ermessungsspielraum seitens der Arbeitsagentur in Bezug auf die Verfügung von etwaigen Sanktionen und ob diese vorab durch eine interne Kontrollinstanz überprüft werden. Hierzu teilt die Arbeitsagentur mit, „Hinweisen auf möglichen Leistungsmissbrauch wird immer konsequent nachgegangen, insofern stellt sich hier nicht die Frage nach einem Ermessenspielraum.“

Es geht um hier um die Umsetzung gesetzlicher Regelungen und Vorgaben, führt die Arbeitsagentur Oberhausen an. „Sofern sich ein Verdacht erhärtet, wird dieser Fall an die zuständigen Strafverfolgungsbehörden abgegeben (Zoll, Staatsanwaltschaft). Aber: Wir sind keine Ermittlungsbehörde. Nur im Verdachtsfall oder auf Hinweise hin – oder bei offensichtlichen oder sich widersprechenden Angaben – können wir aktiv werden. Wichtig: Leistungsmissbrauch bei Kurzarbeitergeld ist kein Massenphänomen.“

Dirk Vöpel – Bundestagsabgeordneter der SPD-Fraktion für den Wahlkreis Oberhausen – Bild: Benno Kraehahn

Noch einmal zur Erinnerung, es geht der Arbeitsagentur Oberhausen, um die Klärung des Verdachts der Mithilfe von Mitarbeitern in Kurzarbeit bei der Zubereitung von kostenlosen Mahlzeiten für Obdachlose unter der Berufung auf die „Umsetzung gesetzlicher Regelungen und Vorgaben“.

Eine kleine Meinungsumfrage
Für die Ausgestaltung von Gesetzen ist bekanntermaßen die Politik zuständig. Anlass genug bei zwei Bundestagsabgeordneten nachzufragen, wie sie in diesem Zusammenhang die Vorgehensweise der Arbeitsagentur in ihrem Wahlkreis bewerten.

Für Dirk Vöpel von der SPD ist ein: „solidarisches und menschliches Miteinander aktuell wichtiger denn je. Mein Dank gilt deshalb allen, den Ehrenamtlichen, aber auch den Hauptberuflichen, die mit größtem Einsatz und mit Hilfsbereitschaft den Laden am Laufen halten. Und das, obwohl viele selber mit persönlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Gerade in der vom Coronavirus geprägten Vorweihnachtszeit las es sich deshalb wie eine böse Amtsposse: „Ehrenamtliche Helfer:innen, die Obdachlose mit warme Mahlzeiten versorgen, werden nun von der BA überprüft.“ Nach dem ersten Kopfschütteln – haben die bei der BA nichts Besseres zu tun?- , sollten wir jedoch alle zur Sachlichkeit zurückfinden und verbal abrüsten.“

Beim Kurzarbeitergeld handelt es sich um das Geld der Beitragszahler:innen, befindet Vöpel, „deshalb sollten wir alle ein Interesse daran haben, dass dieses auch ordnungsgemäß verwendet wird. Wenn Mitarbeiter:innen der BA dies überprüfen, also ihre Arbeit machen, sollte das ebenfalls nicht skandalisiert werden. Auch wenn die Art der Ansprache eventuell zu Unmut geführt hat. Nun gilt es zunächst das Ergebnis der Prüfung abzuwarten und den Sachverhalt schnellstmöglich zu klären.“

„Es ist die Sozial- und Wohnpolitik der letzten Regierungen, die es nicht leisten konnte, die Obdachlosigkeit zu beseitigen oder zumindest nennenswert zurückzudrängen“, lautet hingegen die Einschätzung des Politikers Niema Movassat von der Bundestagsfraktion Die Linke. Auch geht er nicht davon aus, „dass Obdachlosigkeit hierzulande bis 2030 beseitigt sein könnte. Hierzu sind bislang keine nennenswerten Entwicklungen seitens der herrschenden Politik zu beobachten.“ Was die Politik von rot-grün im Hinblick auf die Agenda 2010 angeht, lässt sich sagen, dass zwar beide Parteien Signale geben, von dieser Politik abzukehren. Indes ist die wahrscheinlichste Aussicht für beide Parteien eine Koalition mit der CDU/CSU, so dass die Abkehr nur Symbolik ist und sich vermutlich nicht in praktische Politik verwirklichen wird.

Niema Movassat – Mitglied der Bundestagsfraktion Die Linke für den Wahlkreis Oberhausen

Immerhin zieht Movassat eine politische Maßnahme in Betracht, die zur Klärung des Sachverhalts beitragen könnte. Ob sich aus den beschriebenem Fall Fragen ergeben, „die ich an die Bundesregierung stellen kann, werde ich nun prüfen. Im Hinblick auf den konkreten Fall fehlen mir leider alle Informationen, um sie juristisch zu bewerten. Selbstverständlich sind die Umstände und das Geschehene sehr haarsträubend und irritierend. Was es damit auf sich hat, lässt sich wohl aufklären, wenn das Jobcenter hier befragt wird. Dies könnte sich eventuell dann durch eine parlamentarische Anfrage ergeben.“

Hoffen auf Victor Hugo und Europa
Während in der Stellungnahme der Arbeitsagentur stilistisch ein Ausrufezeichen Verwendung gefunden hat, kommt ein Zitat des Schriftstellers und Politikers Victor Hugo ohne selbiges aus. Wenn schon im Brüsseler EU-Parlament die Notsituation der Obdachlosen in Europa immerhin Einzug auf die politische Tagesordnung gefunden hat, könnte mit Blick auf die Zukunft wohlmöglich auch ein Zitat aus der Eröffnungsrede von Victor Hugo beim Pariser Friedenskongress von 1849 irgendwann zutreffen: „Der Tag wird kommen, an dem man die Kanonen in den Museen zeigen wird, wie man dort heute ein Folterinstrument zeigt, sich wundernd, dass es so etwas gegeben haben kann. (…)“

Nachgereicht: Der Verein Solidarität in Oberhausen, welcher in Kooperation mit den drei Oberhausener Gaststätten die Versorgung mit warmen Mahlzeiten für Obdachlose realisiert, verkündet via Facebook, dass die Arbeitsagentur Oberhausen zumindest einem der Betriebe inzwischen das Kurzarbeitergeld gezahlt hat.

Text: Manfred Tari
Titelbild: Warm, Trocken, Satt – Copyright Hildegard Mihm

 

 

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