Seit 2011 mobilisiert die Initiative „Wir haben es satt!“ in Berlin eine Demonstration zeitgleich zur stattfindenden Agrar-Revue „Grüne Woche“. Seit 2018 hat Saskia Richartz das Kampagnen-Management zur Demo inne, zuvor war sie 16 Jahre für Greenpeace in Brüssel tätig.
Auch wenn es auf den ersten Blick mutmaßliche Parallelen zwischen den zentralen Anliegen von „Wir haben es satt!“ und der Agenda des kürzlich stattgefundenen Lebensmittelgipfel im Berliner Kanzleramt geben könnte, so sind diese bei näherer Beachtung allerdings keineswegs auszumachen.
Inhaltlich ist der Spagat zwischen den Forderungen von „Wir haben es satt!“ nach fairen Preisen für Lebensmittel oder dem Erhalt von bäuerlichen Strukturen und dem politischen Blame Game des Lebensmittelgipfels gegenüber Dumpingpreisen und Discountern im Lebensmittelhandel einfach zu groß.
Wieso das so ist, das erklärt die Analyse des Lebensmittelgipfel aus Sicht von Richartz anhand der Fragen von Delinale.de:
Wie wird der Lebensmittelgipfel aus Sicht der Initiative „Wir haben es satt!“ bewertet?
Saskia Richartz: Das Thema der Übermacht der Handelskonzerne und besonders der Discounter ist drängend und es ist gut, dass sich die Politik dem jetzt endlich mal annimmt. Es ist aber völlig falsch den Schwarzen Peter jetzt von der Politik auf den Handel zu schieben. Wir sehen die Politik ganz klar in der Verantwortung. Wir haben die ständigen wachsweichen Ankündigungen und Alibi-Politik satt. Jetzt heißt es Liefern statt Labern.
Die Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte in ihrem Eingangsstatement: „Es ist unbestritten, dass es eine relativ hohe Konzentration der Handelsorganisationen oder der Handelsakteure gibt. Diese hohe Konzentration wird vom Kartellamt immer wieder angeschaut.“ Ist es Ihrer Meinung nach politisch angebracht, der Marktmacht der großen Handelsketten konkreter zu begegnen, als diese lediglich „anzuschauen“?
Auf jeden Fall. Hinschauen ist richtig, aber Hinschauen und Nichts-tun ist das Schlimmste. Angela Merkel hat zugeschaut, wie seit 2005 130.000 Bauernhöfe geschlossen haben.
Aldi und Co. diktieren den Betrieben oftmals Preise, mit denen nicht mal die Produktionskosten gedeckt werden können. Die Milch wurde zum Beispiel in den letzten zehn Jahren im Schnitt 22 Prozent unter dem verkauft, was kostendeckend wäre.
Deswegen haben viele Bauerinnen und Bauern ihre Höfe aufgegeben. Wenn vier Lebensmittelketten 85 Prozent des Marktes beherrschen und faktisch die Preise diktieren, dann ist klar, dass ist es die Aufgabe der Politik die Handelskonzerne in die Schranken zu weisen.
HDE-Präsident Josef Sanktjohanser hat der Option einer „staatlichen Einmischung in die Preispolitik“ bereits im Vorfeld des Gipfels vehement widersprochen. Bedarf es ähnlich wie dem Gesetz des Mietendeckels in Berlin mittlerweile ebenso vergleichbare Gesetze für den Lebensmittelhandel?
Die Politik hat derartige Instrumente schon, sie muss sie nur anwenden. Statt des lange angekündigten unverbindlichen Tierwohl-Labels braucht es eine verpflichtende Kennzeichnung zum Beispiel von Fleisch-Produktionsbedingungen – ähnlich wie bei Eiern.
So könnten die Verbraucher*innen an der Ladentheke entscheiden, welche Haltungsbedingungen sie mit ihrer Kaufkraft unterstützen wollen. Bauernhöfe hätten die Möglichkeit auf Qualität zu setzen und hätten eine bessere finanzielle Perspektive für den nötigen Umbau ihrer Ställe.
Auch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer für Fleisch von 7 auf 19 Prozent könnte einerseits dafür sorgen, dass der klimaschädliche Fleischkonsum sinkt und gleichzeitig könnte der Staat mit den eingenommenen Gelder den Umbau der Ställe hin zu artgerechter Haltung finanzieren. Regionale Lebensmittelketten könnten ihrerseits gesetzlich besser gestellt werden, z. B. durch ein Foodmiles-System.
Der Spiegel zitiert den Rewe-Chef Lionel Souque, der ebenfalls im Vorfeld des Gipfels äußerte: „In Deutschland leben rund 13 Millionen Menschen in Armut oder an der Armutsgrenze“ und behauptet, „günstige Lebensmittelpreise ermöglichen diesen Menschen eine gesunde und sichere Ernährung.“ Laut Verdi wiederum sind 2 von 3 Beschäftigten im Lebensmittelhandel im Niedriglohnsektor beschäftigt. Inwieweit ist die Argumentation von Souque noch nachvollziehbar, auch angesichts dessen, dass beispielsweise der Lidl-Eigner Dieter Schwarz es zum reichsten Menschen Deutschlands geschafft hat?
Die Handelsriesen fürchten offenbar um ihre Milliardengewinne. Es ist bezeichnend, dass die reichsten Deutschen jetzt Menschen mit geringem Einkommen vorschützen, um ihre Ramschpreise zu rechtfertigen. Nicht zuletzt weil viele Menschen zu wenig verdienen, um faire Preise zahlen zu können, machen Aldi, Rewe, Lidl und Co. ihre Milliarden.
Dieses System ist einfach absurd. Die Bundesregierung muss klare Vorgaben schaffen, damit Lebensmittel nicht verramscht werden, die Bäuer*innen ein gutes Einkommen bekommen und alle Menschen sich gutes Essen leisten können. Das ist schließlich ein Menschenrecht.
Die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahrzehnte begünstigte die Entwicklung der ungleichen Kräfteverhältnisse zwischen großen und kleinen Unternehmen. Reicht der Maßnahmenkatalog der EU-Richtlinie gegen „unfaire Handelspraktiken in der Lebensmittellieferkette“ nicht bereits, um diese Unterschiede wieder wettzumachen oder braucht es hierzulande noch weitergehende Gesetze?
Es braucht einen Systemwechsel in der Agrar- und Ernährungspolitik – weg von industriellen, globalisierten Produktions- und Handelsketten, hin zu einer regionalen, nachhaltigen Erzeugung von gesunden Lebensmitteln.
Die globale Klimakrise, das Artensterben und der Verlust von fruchtbaren Boden und Wasserresourcen sollte den politischen, gesellschaftlichen und unternehmerischen Blick schleunigst auf Ernährungssicherheit konzentrieren.
Trauen sie der großen Koalition im Nachgang zu dem nun stattgefundenen Lebensmittelgipfel innerhalb der laufenden Legislaturperiode noch zu, Gesetze zu verabschieden, die zu einer Verbesserung der gegenwärtigen Situation beitragen?
Wir erwarten nach all dem Palaver der letzten Jahre nicht viel von der aktuellen Regierung. Aber die Hoffnung stirbt ja zuletzt. Spätestens in der zweiten Jahreshälfte, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, steht die Bundesregierung dann auch in Europa auf dem Prüfstand.
Es ist jetzt besonders wichtig, dass Landwirtschaft und Gesellschaft – und auch progressive Unternehmen – den Druck auf die Regierung erhöhen.
Ausführliche Informationen zu „Wir haben es satt!“ finden sich auf: wir-haben-es-satt.de/
Interview: Manfred Tari
Bild Saskia Richartz: Fabian Melber/www.wir-haben-es-satt.de